Ist so etwas auch in Deutschland möglich?

Im Jahr 2021 lebten in Frankreich rund 7 Millionen Migranten, das entspricht 10,3 Prozent der Bevölkerung, hinzu kommt ein etwas größerer Anteil an Migranten der zweiten Generation. Laut der Insee-Studie ist Frankreich eines der europäischen Länder mit dem größten Anteil an Menschen, die mindestens einen im Ausland geborenen Elternteil haben. Die Migranten leben zunehmend in den Ballungsräumen, insbesondere im Großraum Paris.

Laut der Insee-Studie sind Migranten der ersten Generation in Frankreich auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt benachteiligt, haben häufiger gesundheitliche Probleme und sind doppelt so häufig von Armut betroffen wie die Durchschnittsbevölkerung. Für die zweite Generation sieht es besser aus. In schulischer Hinsicht schließt sie mittlerweile zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund auf und fasst auch auf dem Arbeitsmarkt Fuß. Dennoch gibt es Nachteile bei der Wohnungs- und Jobsuche. Dies lässt sich auch am nach wie vor großen Anteil der Migranten der zweiten Generation ablesen, die sich diskriminiert fühlen.

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Auch in Deutschland ist das Verhältnis zwischen Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten und der Polizei problematisch. Allerdings sind Fälle von massiver Gewalt und Sachbeschädigung seltener als in Frankreich und von deutlich geringerem Ausmaß.

Im Jahr 2022 lag der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung in Deutschland bei 28,7 Prozent. Von den 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund waren 12,2 Millionen deutsche Staatsbürger und 11,6 Millionen Ausländer. Im Westen der Republik ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund deutlich höher als im Gebiet der ehemaligen DDR. Bevölkerungsstatistisch gesehen hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn entweder sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit der deutschen Staatsangehörigkeit geboren wurde.

Auch in Deutschland gibt es soziale Hotspots. Die stellvertretende Vorsitzende des Beirats für Integration und Migration, Birgit Leyendecker, sieht dennoch erhebliche Unterschiede. Sie sagt: „Die sogenannten Banlieues wurden als Arbeiterquartiere praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Es fehlte an Infrastruktur, Kinderärzten, Sportplätzen, Jugendclubs.“ In Deutschland dagegen nach der Rekrutierung von den sogenannten Gastarbeitern wurden keine größeren Wohngebiete für ausländische Arbeitskräfte errichtet. Aber auch hier gibt es vereinzelt Orte, an denen die Lebensbedingungen schlecht sind und der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund hoch ist.

Paris/Berlin – Die Unruhen, die seit Jahrzehnten in Frankreichs Vororten aufflammen, sind Zeugnis einer Geschichte gescheiterter Integration. So auch jetzt nach dem Tod eines Jugendlichen durch einen Polizeischuss. Obwohl eine aktuelle Migrationsstudie in Frankreich zeigt, dass sich die Lebensbedingungen für Einwanderer der zweiten Generation verbessern, fühlen sich viele diskriminiert – auch diejenigen mit einem französischen Pass. Forscher sind sich einig: Trotz vieler Bemühungen hat sich an der sozialen Isolation und Benachteiligung in den Banlieues wenig geändert.

Die Konflikte zwischen Vorstadtjugendlichen und der französischen Polizei sind mit der Entstehung von Hotspots verknüpft. Als sich dort eine eigene Subkultur entwickelte, wurden die Wohnblöcke zu Sperrgebieten. Dennoch zeigen die Beamten dort mit massiven Auftritten ihre Präsenz. Das Drama der gegenseitigen Gewalt wurde 1995 durch den preisgekrönten Film „La Haine“ (Hass) auf die Leinwand gebracht: In der Schlussszene richten ein Polizist und ein Vorstadtjugendlich jeweils eine Pistole auf die Stirn des anderen – dann ein Schuss fällt.

In Frankreich ist es zu schweren Ausschreitungen gekommen, nachdem ein Polizist tödlich auf einen Jugendlichen mit Migrationshintergrund geschossen hatte. Laurent Cipriani/AP

Ein Beispiel hierfür ist die Dortmunder Nordstadt. Untersuchungen haben gezeigt, dass es sich bei den dortigen Bezirken aufgrund der niedrigen Mieten in erster Linie um „Wohnbezirke des Ankommens“ handelt. „Etwa die Hälfte der Menschen, die dort leben, zieht innerhalb von 15 Jahren wieder weg“, sagt Leyendecker, der an der Ruhr-Universität Bochum lehrt.

„Zustände wie in Frankreich haben wir zum Glück nicht“, resümiert Leyendecker. Und warnt gleichzeitig: „Wenn wir aber nicht für eine gute Infrastruktur in Problemgebieten sorgen, könnte es auch hier eines Tages passieren.“ Zumindest in Deutschland gibt es mittlerweile ein Bewusstsein dafür, dass Rassismus ein Problem ist und es gibt auch einige Projekte, denen man entgegenwirken kann. Dennoch brauche es mehr Anti-Rassismus-Schulungen – etwa in Schulen und auch bei der Polizei.

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Studien zeigen, dass die Aufstiegschancen für Menschen aus ärmeren Familien in Deutschland nicht gut sind. Dies betrifft nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund. „Es ist sehr wichtig, dass ausreichend in gute Schulen und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche aus Krisenvierteln investiert wird“, warnt Integrationsforscherin Leyendecker. Auch damit die jungen Menschen ihre Nachbarschaft verlassen und andere Erfahrungen machen können. „Wir müssen auch bei den Kitas anfangen“, fordert die Forscherin. „Denn wir wissen, dass es für Migrantenfamilien schwierig ist, einen der wenigen Plätze für Kinder unter drei Jahren zu bekommen.“

In den Nachkriegsjahrzehnten wurden sie aus dem Boden gestampft, um bezahlbaren Wohnraum in Ballungsräumen zu schaffen. Doch längst sind die Hochhaussiedlungen zu gesellschaftlichen Brennpunkten geworden. Wer auf der sozialen Leiter eine Sprosse erklomm, zog weg, während sich in den Wohnblöcken ein eigener Mikrokosmos der Kriminalität und ein hoher Ausländeranteil entwickelten. Die Siedlungen sind geprägt von Einwanderung aus ehemals von Frankreich kolonisierten Ländern. Laut der Migrationsstudie des Insee-Instituts leben mehr als 30 Prozent der Migranten aus Afrika in solch oft überfüllten Quartieren.

Michael Evers

04.07.2023 | aktualisiert am 05.07.2023 – 07:28

Die Probleme in den französischen Banlieues werden seit Jahrzehnten diskutiert. Einige deutsche Migrationsforscher warnen vor „französischen Verhältnissen“ hierzulande. Aber ist das ein ernstes Risiko?

Polizisten stehen in der Silvesternacht in Berlin hinter explodierenden Feuerwerkskörpern (Symbolbild). „Selbst in Deutschland sind solche Ausschreitungen mancherorts denkbar“, sagt Polizeigewerkschafter Jochen Kopelke. paJulius-Christian Schreiner/TNN/d

dpa

Anne Beatrice Clasmann