Der gesprengte Staudamm hebt den Ukraine-Krieg auf eine neue Ebene

Der Kulturpalast in Nowa Kachowka steht unter Wasser. Alexei Konovalov / imago

Die Flut erreichte schnell das Zentrum von Nowaja Kachowka. Alexei Konovalov/imago

Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms steht die besetzte ukrainische Stadt Nowa Kachowka vollständig unter Wasser.ITAR-TASS/imago

Der Staudamm in Nowa Kachowka fasst so viel Wasser wie der Große Salzsee in den Vereinigten Staaten. Es wurde 1956 erbaut und versorgt neben dem Wasserkraftwerk auch den Süden des Landes, darunter die Krim, mit Wasser.Cover-Images/imago

Riesige Wassermassen haben nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms im von Russland angegriffenen Kriegsgebiet der Ukraine Dutzende Städte überschwemmt. Das mehr als 60 Jahre alte Wasserkraftwerk und die Staumauer des Flusses Dnipro in der Region Cherson im Süden der Ukraine wurden zerstört. Häuser stehen unter Wasser. 80 Orte liegen im Überschwemmungsgebiet. Tausende Menschen müssen gerettet werden. Landwirtschaftliche Flächen für wichtigen Getreideanbau werden überschwemmt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von der „größten menschengemachten Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“.

Die Fassade des Wasserkraftwerksgebäudes in Nowa Kachowka nach der Explosion. Alexei Konovalov/imago

Während Staatschef Selenskyj die Zerstörung des für die Trinkwasserversorgung und die Landwirtschaft wichtigen Stausees und Kraftwerks mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe vergleicht, kämpfen die Menschen mit den Folgen der Flutkatastrophe. In sozialen Netzwerken werden Videos von Rettungseinsätzen gezeigt. Helfer tragen Menschen, die nicht mehr laufen können, auf Tüchern aus ihren überschwemmten Häusern. Viele sind von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Es kommt zu Stromausfällen. Über mögliche Todesopfer oder Verletzte ist bis heute Nachmittag nichts bekannt.

Mehrere Dörfer in der Staudammregion werden überschwemmt. Menschen werden evakuiert. Alexei Konovalov/imago

Nach mehr als 15 Monaten Krieg sind die Menschen in der Region an einiges gewöhnt. Doch es handelt sich um eine humanitäre Katastrophe beispiellosen Ausmaßes. Die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Region Cherson ist seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 umstritten. Nach einer erfolgreichen Offensive im vergangenen Sommer eroberte die Ukraine die Regionalhauptstadt Cherson zurück. Aber auch nach dieser Niederlage kontrolliert Russland immer noch den größten Teil des Territoriums.

Am Dienstagabend um 2.50 Uhr kam es nach Angaben Kiews zu einer schweren Explosion im Maschinenraum des Wasserkraftwerks nahe der von russischen Truppen besetzten Stadt Nowa Kachowka. Auch der obere Teil der Staumauer des Kachowka-Sees wird zerstört. Wenige Stunden später wirft die Ukraine dem „Terrorstaat Russland“ ein neues Kriegsverbrechen vor und fordert den Westen zu noch härterem Vorgehen gegen Moskau auf.

Da Russland auch die Souveränität über das Wasserkraftwerk besitzt, gehen Selenskyj und andere in der Führung in Kiew davon aus, dass Russland für den Angriff verantwortlich ist. „Es ist physikalisch unmöglich, es irgendwie in die Luft zu jagen, indem man es von außen beschießt. Es wurde von den russischen Besatzern vermint. Und sie haben es in die Luft gesprengt“, sagt Selenskyj. Nach ersten Erkenntnissen ukrainischer Geheimdienste soll die Sprengung von der 205. motorisierten Schützeneinheit der russischen Armee durchgeführt worden sein.

06.06.2023 | aktualisiert am 06.06.2023 – 19:02 Uhr

Schon vor dem Krieg war die Krim, die im Rahmen ihrer Offensive Kiew von der russischen Besatzung befreien will, viele Jahre von der ukrainischen Wasserversorgung abgeschnitten. Unterm Strich sei der strategische Nutzen, den Kiew mit der Sprengung des Staudamms erzielen wolle, laut Moskau offensichtlich.

Die Region ist die Kornkammer der Ukraine. Landwirtschaftliche Bewässerungssysteme und landwirtschaftliche Flächen wurden zerstört. Die politische Debatte dreht sich aber auch um die militärische Bedeutung der Kraftwerkszerstörung. Der Kreml und die russische Militärführung machen ukrainische Saboteure für den „Terroranschlag“ verantwortlich, Moskaus zentrales Untersuchungskomitee schickt Ermittler zum Kraftwerk. Ein Video der Behörden zeigt, wie sich Uniformierte ein Bild von der Lage am geplatzten Damm und am Wildbach machen.

#Ukraine 🇺🇦: ein weiteres Drohnenvideo der massiven Überschwemmungen als Folge der Zerstörung des Staudamms Nova Kachovka.

Unterdessen streiten Experten in Moskau und Kiew darüber, welche Vorteile eine Sprengung des Staudamms für die jeweiligen Kriegsparteien haben könnte. Russische Militärblogger kommentieren, dass es leicht sei, Moskau für das Verbrechen verantwortlich zu machen. Aber das russische Militär würde sich selbst ins Bein schießen. Die Überschwemmungen aus dem Stausee haben inzwischen befestigte Verteidigungsstellungen auf der von Russland kontrollierten Seite des Flusses Dnipro zerstört und das verminte Gebiet überschwemmt. Die russischen Truppen seien zum Rückzug gezwungen worden, hieß es.

Russland soll den wichtigen Kachowka-Staudamm in der Ostukraine gesprengt haben. Dörfer werden überschwemmt, Menschen kämpfen ums Überleben. Ein Überblick.

Sobald der Stausee geleert ist, wird es den ukrainischen Streitkräften viel leichter fallen, den Dnipro zu überqueren, um den Rest der Oblast Cherson zu befreien, hieß es in einem Blog. Es gibt dort keine Brücken mehr. Darüber hinaus – so betont Kremlsprecher Dmitri Peskow – ziele die Ukraine mit der Zerstörung des Staudamms erneut darauf ab, die Wasserversorgung der nahegelegenen Schwarzmeerhalbinsel Krim, die seit 2014 von Moskau besetzt ist, erneut zu unterbrechen.

Gleichzeitig hieß es wenig später in Kiew, dass dies keinen Einfluss auf den Kurs des Militärs in der Ukraine haben werde. Am frühen Morgen äußerte Podoliak im ukrainischen Fernsehen, Russland wolle mit dem Angriff in der umkämpften Region Cherson erneut die Initiative im Krieg ergreifen und die europäischen Staaten einschüchtern. Experten bestätigen zudem, dass Russland dem Westen zeigen will, dass es keine roten Linien kennt und den Krieg nun auf eine neue Ebene hebt. Ziel Moskaus ist es, den Westen auf Kiew einzuwirken, damit Friedensverhandlungen stattfinden können.

Die ukrainische Stadt Nowa Kakhovka steht nach der Sprengung eines Staudamms unter Wasser. Alexei Konovalov / imago

Doch Selenskyj betont, dass sich die Ukraine in ihrem Befreiungskampf nicht durch Wasser oder Raketen aufhalten lasse. Waffen und Munition aus dem Westen sind der einzige Weg. Er fordert, dass alles getan werde, um den Menschen in der Region zu helfen, die ohnehin durch den Krieg verzweifelt seien.

Viele Städte, darunter die Stadt #Kherson, liegen flussabwärts von hier. pic.twitter.com/oPFaZ7jyAR

In Kiew stießen solche Erklärungen auf scharfe Kritik. Der Berater des Präsidentenbüros in Kiew, Mykhailo Podoliak, warnt schon früh davor, sich von der russischen Propaganda täuschen zu lassen. Das Motiv für den „Terroranschlag“ sieht er eindeutig in Moskau. Das offensichtliche Ziel Russlands besteht darin, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen. Russland versuche, das Kriegsende hinauszuzögern, sagt er.